Wein öffnen und genießen

Der letzte Meter oder wie man einen Wein behutsam auf seinen größten Moment vorbereitet

Man muss sich das so vorstellen: da verbringt ein Wein Monate oder Jahre in dunklen Tanks und Fässern, danach noch einmal Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte in stillen Kellern. In dieser ganzen Zeit wird er kaum bewegt, selten berührt, meist sogar in ganz in Ruhe gelassen. Man könnte sagen: der Wein verfällt in einen tiefen, schweren Winterschlaf.

Und dann, plötzlich, kommt der Tag, an dem er getrunken werden soll. Frühlingserwachen. Was nun passiert, kann man sich ausmalen wie einen Spaziergang nach langem, hartem, dunklen, Winter, den man fröstelnd und noch mit blinzelnden Augen absolviert. Für den Wein beginnt in diesem Moment das Leben, und wer Freude an ihm haben will, tut gut daran, ihn sachte in dieses Leben zu schubsen. Ihn sanft dem Licht auszusetzen. Ihn nicht zu heftig zu bewegen. Ihm nur mäßig Luft zuzuführen. Schließlich ist er nichts von alledem gewohnt.

Wer beispielsweise schnell noch zum Weinhändler läuft, weil sich für den Abend ein paar Freunde angekündigt haben, sollte seinen Einkauf möglichst ruhig und aufrecht nach Hause transportieren – anderenfalls werden Ausfällungen, die sich am Flaschenboden gesammelt haben können, nochmal so richtig durchgeschüttelt. Beim Trinken legen sie sich dann wie feiner Sand auf die Zunge, verschließen die Poren – und der Weingenuss ist keiner mehr.

Ein solches Sediment hat übrigens nichts mit mangelnder Qualität zu tun, im Gegenteil: Depots finden sich in erster Linie in hochqualitativen Weinen. Hochwertige Vintage Ports beispielsweise oder traditionell vinifizierte Barolos (deren Produzenten zu den erbitterten Widerstandskämpfern gegen den vermeintlichen Zeitgeist zählen) tragen häufig esslöffelweise Sediment mit sich. Manchmal erinnern diese Ablagerungen an feinkörnigen Meeressand, manchmal an mikroskopisch kleinen Hausstaub. Konsumweine hingegen sind gewöhnlich depotfrei, da sie vor ihrer Abfüllung noch einmal gefiltert werden (eine Folge des bedauerlichen Trends zu leicht konsumierbaren Weinen).

Wenngleich ein Depot also durchaus ein Zeichen von Güte sein kann, hat es doch im Glas nichts zu suchen. Eine Flasche, die demnächst geleert werde soll, sollte deshalb in einem Flaschenkorb stehend nach Hause transportiert werden. Wird sie aus dem Keller geholt, trägt man sie am Besten in einem Dekantierkorb oder –Gestell und so, wie sie gelagert wurde: mit dem Etikett nach oben.

Die Bouteille wird dann vorsichtig geöffnet, indem man ihre Kapsel unterhalb der Verdickung des Flaschenhalses abschneidet und eventuelle Verunreinigungen mit einer befeuchteten Serviette abtupft. Sie haben bestimmt schon Kellner gesehen, die die Kapsel an ihrer Oberkante kappen und dafür einen sogenannten Kapselschneider verwenden. Beides ist falsch. Eine knapp gekappte Kapsel kann beim Einschenken mit dem Wein in Berührung kommen (und das birgt die Gefahr einer geschmacklichen, möglicherweise sogar hygienischen Beeinträchtigung). Und Kapselschneider reichen nun einmal nicht über den Glaswulst hinaus. Außerdem sind ihre Metallmesser spätestens nach drei Dutzend Kapselschnitten stumpf. Benutzen Sie also besser ein Küchen- oder Taschenmesser oder jenes ihres Korkenziehers zum Kappen der Kapsel: das leistet die gleichen Dienste und lässt sich problemlos nachschleifen.
Für das, was nun folgt, verwende ich seit Jahren ein und dasselbe Modell: einen „Screwpull“ aus dem gleichnamigen Hause (oder, wenn gleich eine ganze Batterie von Flaschen zu öffnen ist, seinen großen Bruder „Leverpull“). Dieser beste aller Korkenzieher verfügt über eine gedrehte Metallspirale mit scharfen Kanten und sieben bis zehn Umdrehungen, die auch lange Korken in Gänze erfassen. Seine Spirale ist mit Teflon ummantelt, weshalb er – im Gegensatz zu vielen Konkurrenzmodellen, die den Korken durchfräsen und dabei zerbröseln – einen Stopfen durchdringt wie ein scharfes Messer einen Apfel. Er greift ihn sich förmlich. Ein Screwpull ist deshalb die sauberste, sicherste, müheloseste Lösung und nebenbei mit etwa 20 Euro auch eine durchaus erschwingliche. Einziger Nachteil: nach 300 bis 400 Flaschenöffnungen ist seine Teflonschicht perdu, dann muss ein neuer her.

Viele Kellner und Sommeliers verwenden bei ihrer Prüfung trotzdem ein sogenanntes Kellnerbesteck – besonders beliebt ist ein Kellnerbesteck Marke „Laguiole“ -, das als Mercedes unter den Flaschenöffnern führt, obwohl es beim Herausziehen manchmal zu lustigen Verrenkungen führt. Der Grund: die Länge eines Screwpull-Gewindes ist so bemessen, dass es einen normalen Korken in seiner vollen Länge erfasst und ihn vollständig aus dem Flaschenhals zieht. Bei kurzen Korken aber durchstößt seine Spirale den Korken und es kann passieren, dass sich ein Korkkrümel löst und in den Wein fällt. Und das ist für die Kellner-Prüfungskommissionen mindestens so schlimm wie ein Daumen in der Suppe.

Der Rest der Welt löst das Problem einfach, indem der Korkkrümel mit dem ersten Schluck ins Glas gegossen und weggeschüttet wird. Schwieriger wird es, wenn der Korken komplett zerfällt oder im Hals steckenbleibt (zu den in diesem Fall unverzüglich einzuleitenden Rettungsmaßnahmen erzähle ich gegen Ende des Kapitels etwas). Schauen Sie also Ihrem Ober beim Flaschen-Aerobic mit einem Kellnerbesteck zu, und dann verwenden Sie selbst einen Screwpull, dann haben Sie’s einfacher.

Eine ähnlich einfache Lösung gibt es auch für unser zweites Problem, das Weindepot: ihm rücken wir mit dem sogenannten Dekantieren zu Leibe. Diese auch Karaffieren genannte Methode wird zwar von vielen als überflüssiges Ritual missverstanden, hat aber einen entscheidenden Vorteil: Wein und Depot lassen sich auf diese Weise sauber trennen. Dabei gießt man den Wein ganz langsam aus seiner Flasche in eine Glaskaraffe, wobei die Flasche mit dem Etikett nach oben und mit dem Flaschenhals über einer Kerze gehalten wird. Der Abstand zwischen Flamme und Flaschenhals sollte in etwa zehn Zentimeter betragen. Diese gemächliche, fast meditative Art des Gießens hat übrigens durchaus ihren Sinn: schüttet man den Wein nämlich wie Mineralwasser mit Schwung in die Karaffe, riecht und schmeckt er matt. Aber das wissen nur wenige. Sobald sich dann im kerzendurchleuchteten Flaschenhals das Depot als feiner Faden zeigt, setzt man ab und belässt Depot plus Weinrest in der Flasche.

Sofern es sich dabei um einen Wein handelt, der sich schon weit entwickelt hat und nicht mehr viel Luft verträgt, wähle ich eine Karaffe mit schmalem Hals und kleinem Bauch. Damit verhindere ich, dass mir der Wein unter den Händen wegstirbt, das heißt: oxidiert. Und toter Wein schmeckt säuerlich, dumpf, langweilig, überreif wie alte Rosinen.

Anders liegt der Fall bei tanninreichen, jungen Weinen – wobei „jung“ relativ zu verstehen ist, denn auch sechs Jahre alte Prioratos, Piemonteser oder Dueros höherer Qualitätsstufen fallen durchaus noch in die Kategorie jung/sperrig/ungestüm. Diese Jungspunde brauchen noch viel Sauerstoff für ihre Entfaltung. Auf sie wirkt das Karaffieren wie ein Alterungsprozess im Zeitraffer. Gleiches gilt übrigens für Weißweine aus dem Barrique, deren Gerbstoffe sich dank der Sauerstoffzufuhr angenehm entspannen. Für solche Weine verwende ich dickbauchige Karaffen mit einem weiten hals und großer Oberfläche, die dem Wein kräftig Luft zuführen.

Fassen wir also zusammen: Dekantiert werden Weine, die ein Depot entwickelt haben oder deren Gerbstoffe noch zu kantig erscheinen. Ein guter Grund fürs Karaffieren sind auch Schönheitsfehler von Weinen – Fehlgerüche, die sich durch das Dekantieren verflüchtigen können.

Jede Karaffe wird vor dem Dekantieren viniert, d.h. mit einem Schluck Wein ausgeschwenkt. Dabei lösen sich Restpartikel Chlor und Spülmittel vom Karaffenrand, die dann mit dem Wein weggegossen werden.
Wie lange aber muss ich einen Wein in sein gläsernes „Sauerstoffzelt“ schicken? Wann kippt heilsames „Luft holen“ um in unerwünschtes „Altern“? Nun, diese Frage lässt sich nur individuell beantworten, weil der Reifeprozess von Weinen ganz unterschiedlich verläuft. Da hilft nur Öffnen und Probieren, und zwar einige Stunden vor dem Genuss. Präsentiert sich der Wein im Ganzen noch als rau, sperrig und mit beschränkten Duftnoten, dekantiert man ihn und stellt bei 16 Grad kühl (das ist die ideale Trinktemperatur für junge Rotweine). Nach einiger Zeit holt man ihn dann wieder hervor und probiert erneut. Dabei wird man feststellen, dass er nun viel weicher schmeckt und intensiver duftet. Er „öffnet sich“, wie wir Sommeliers sagen.

Mit dem Dekantieren startet jedes Mal ein Countdown, in dessen Verlauf sich der Wein öffnet, atmet, seinem Höhepunkt nähert, und sich schließlich – je nach Reifegrad und Tanningehalt – wieder verschließt. Für mich ist diese Entwicklung immer wieder spannend zu beobachten. Nehmen Sie sich zum Beispiel einmal einen 1996er Bordeaux, dekantieren und probieren Sie ihn. Probieren Sie dann nach einer, nach zwei und nach fünf Stunden noch einmal: Sie werden eine verblüffende Veränderung feststellen. Grundsätzlich sparen kann man sich die Prozedur des Dekantierens bei Beaujolais, Lembergern, Spätburgundern, Bordeaux génériques, einfachen Riojas sowie sämtlichen Alltagsweinen – wo immer sie auch herkommen mögen. Solch schlichten Weinen fehlen die Duftstoffe sowie die Härte der Tannine, sodass sie nicht dekantiert werden müssen. Gleiches gilt für die meisten Weißweine, und zwar insbesondere jene, die nicht im Barrique ausgereift wurden.

Bevor man eine Flasche öffnet, giltes jedoch, sie auf die optimale Temperatur zu bringen. Die Grundregel dabei lautet: je schwerer und alkoholreicher ein Wein, desto höher seine Trinktemperatur. Sonderregel Nummer eins: auch Rotweine mit hohem Gerbstoffgehalt werden relativ warm genossen – ein kräftiger, kantiger Premier Cru beispielsweise kann bei bis zu 20 Grad getrunken werden. Sonderregel Nummer zwei: Übersee-Chardonnays, die zumeist aus dem Barrique kommen, vertragen ebenfalls ein paar Grad mehr als ihre „holzfreien“ Verwandten. Auch Sauternes, Grüne Veltliner (Smaragd), Rhône-Weißweine und große weiße Burgunder wie Puligny-Montrachet oder Mersault dürfen etwas wärmer serviert werden.

Das sind aber die seltenen Ausnahmen. Dem Großteil der Weine tut man keinen Gefallen, wenn man sie bei 20 Grad oder gar Zimmertemperatur konsumiert – im Gegenteil, sie verlieren dabei einen Teil ihrer Aromen und schmecken alkoholisch. Vorsicht also bei Padroni, die Ihnen eine gut abgelagerte Flasche Vino da tavola aus dem Regal herunterangeln und diese, nachdem sie eilig die Staubschicht abgefeudelt haben, freudestrahlend mit „Eccola, la bottiglia!“ präsentieren. Der einzige, der hier einen Grund zur Freude hat, ist der Padrone, schließlich dreht er Ihnen gerade einen Ladenhüteran. Hoch oben im Regal dürfte sein Wein nämlich nicht nur eine kräftige Prise Küchenfett sowie andere restaurantübliche Gerüche eingeatmet, sondern auch unter dem Licht gelitten haben (und sei es noch so schummrig – Wein ist definitiv ein Nachtschattengewächs!). Unter der Zimmerdecke ist es außerdem für jeden Wein zu warm. Warum das so ist, kann jeder nachvollziehen, der einmal aufmerksam seine Haut beobachtet: bei Kälte zieht sie sich zusammen, in der Sonne öffnet sie sich. Und wenn es ihr zu heiß wird, schwitzt sie. Genauso verschließt sich ein Wein bei sinkenden Temperaturen und transpiriert, sobald es ihm zu warm wird – was wir daran merken, dass uns ein scharfer Alkoholgeruch in die Nase steigt. Alle anderen Geschmacksstoffe werden dann unangenehm überlagert und die Aromastruktur des Weines verändert sich.

Generell ist für Rotweine eine Trinktemperatur von 14 (für einfache Rotweine, Vins de Pays, Lambrusco) bis maximal 20 Grad Celsius (für tanninreiche Tropfen aus Südfrankreich von der Rhône, aus dem Piemont oder Portugal) zu empfehlen. Hervorragende Bordeaux sollten zwei bis drei Grad kühler serviert werden. Bei Weißweinen gelten 6 (junge Schaumweine, süße Weißweine) bis 12 Grad (für schwere, trockene Weißweine und Champagner aus alten Jahrgängen) als optimal. Hier läßt sich schon die Grundregel Nummer zwei des Weintemperierens ablesen: je leichter der Wein, umso kühler will er getrunken werden. Portugiesische Vinho Verdes, Soaves, Muscadets und Pinot Grigios beispielsweise lassen sich nur gut gekühlt genießen. Auch Rieslinge in der Kabinettsstufe, Grüner Veltliner in der Qualitätsstufe, Federspiele, Steinfedern, Sauvignon Blancs, Chardonnays und Chablis ohne Barrique  schmecken bei 8 bis 10 Grad Celsius am besten.

Das klingt kompliziert und ist es auch – dafür sind die Methoden, mit denen sich ein Wein auf optimale Temperatur kühlen lässt, relativ simpel. Wer über keinen guten Weinkühlschrank verfügt, bei dem sich die gewünschte Temperatur regulieren lässt wie die Wärme eines Backofens, deponiert seine Weinflasche einfach für ein paar Stunden im Kühlschrank oder für kurze Zeit im Gefrierfach (danach klebt man sich am besten sofort einen Erinnerungszettel an eine überschaubare Stelle – mir sind schon diverse Bouteillen, die ich im Eisfach vergessen hatte, geplatzt). Eine erprobte Instantlösung ist auch ein mit Eiswürfeln und kaltem Wasser gefüllter Wein- oder Sektkühler, in den die Flasche aufrecht gestellt wird. Umgekehrt lässt sich ein zu kühler Wein ganz einfach in einem mit warmem Wasser gefüllten Weinkühler oder kleinen Eimer auf die richtige Temperatur bringen. Ich habe mir für solche Zwecke vor einigen Jahren ein Weinthermometer zugelegt, das an wie einen Kugelschreiber in den Flaschenhals stecken soll. Benutzt habe ich es selten. Oben im Flaschenhals herrschen ja andere Temperaturen als im Flaschenbauch, und schon stimmt das ganze Temperaturgefüge nicht mehr. Außerdem dauert es gar nicht lange, bis man selbst ein Gefühl dafür gewinnt, welche Temperatur einem Wein am besten bekommt. Bevor ich eine Flasche öffne, lege ich daher einfach beide Hände um ihren Bauch und deponiere sie dann je nach Befund noch eine Weile im Weinkühlschrank oder an einem warmen Ort. Es macht sowieso keinen Sinn, alle drei Minuten penibel das Thermometer in die Weinflasche zu tunken – später im Glas hält sich die Temperatur ohnehin nicht. Temperaturangaben sind Richtwerte, auf die man einen Wein vor dem Öffnen bringen sollte. Und dann sollte man einfach entspannen und genießen.

Was aber, werden Sie vielleicht fragen, wenn man bei der halben Flasche aufhören möchte? Wenn es spät geworden ist und die Freunde gegangen sind, auf dem Tischer aber noch eine halbe Flasche guter Wein steht? Nun, Helena Rubinstein, Elizabeth Arden & Co. Werden es Ihnen bestätigen: einen einmal in Gang gesetzten Alterungsprozess kann man allenfalls retardieren – stoppen kann ihn niemand mehr. Das ist beim Wein nicht anders, der – einmal geöffnet – seine Jugend binnen weniger Stunden einbüßt. Schuld daran ist der Sauerstoff, der, wie schon eingangs erwähnt, auf Wein eine ähnliche Wirkung hat wie zu viele Sonnenbäder auf die menschliche Haut. Sobald wir also einen Wein aus seinem Winterschlaf geweckt und ihn einmal an die frische Luft gesetzt haben, altert er kräftig vor sich hin – da nützt auch kein hastig hineingestöpselter Korken mehr etwas.

Etwas verlangsamen lässt sich dieser Prozess mit einer Vakuumpumpe, die den Sauerstoff weitgehend wieder aus der Flasche entfernt. Spätestens am folgenden Tag muss man sie dann trotzdem leeren.

Aber seien wir ehrlich: es gibt unerfreulichere Pflichten.